Die "richtige" Therapie des chronischen Tinnitus:
Ich werde öfter gefragt: Können Sie etwas zum Tinnitus sagen, möglichst kurz, in einem Satz. Es ist natürlich nicht einfach die Ergebnisse von jahrelanger Arbeit auf einen Satz zu reduzieren, aber mein Satz sieht ungefähr so aus:
Letztenendes ist der Tinnitus und seine Folgen eine übertriebene Alarmreaktion des Körpers.
Tinnitus selbst ist keine Krankheit - das wäre ja auch schlimm, da ja letztendlich jeder Mensch einen Tinnitus hat, wie wir schon gesehen haben.
Erst das, was er im Körper “anrichtet” und wie wir damit umgehen erschafft das Leid.
Auch die Alarmreaktion als solche ist nicht krankhaft, ganz im Gegenteil, sie ist für unser Überleben sogar ganz dringend notwendig.
Das Problem beim Tinnitus ist, dass die Alarmreaktion leider fälschlicherweise ausgelöst wird und viel zu stark und lange abläuft.
Die Reaktion selbst ist eine ganz natürliche Reaktion - der Auslöser hierfür ist der Falsche!
Provozierend kann man sagen:
Tinnitus ist kein Zeichen dafür, dass etwas in Ihrem Körper oder Kopf nicht funktioniert - Im Gegenteil: Er ist ein Zeichen dafür, dass etwas sogar zu gut funktioniert! Nämlich die Alarmreaktion.
Jetzt geht es darum, genau diese Reaktion langsam wieder abzuschwächen.
Bevor wir dies tun ist aber noch eine Voraussetzung zu erfüllen:
Kein “Schneewittchen-Syndrom”!
Es gibt den Ausdruck nicht offiziell, er ist eine Erfindung von mir. Aber mit Schneewittchen-Syndrom meine ich:
Irgendwo hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen gibt es die eine Pille, den rettenden Arzt, das eine Gerät oder die spezielle Technik, mit der mein Tinnitus endlich verschwindet.
Natürlich wäre es so schön und einfach, wenn es dies gäbe. Einfach eine Pille nehmen und nach ein paar Tagen ist Ruhe. Glauben Sie mir, ich würde diese Pille gern erfinden...
Aber wie wir ja schon gesehen haben gibt es zum einen hunderte von Auslösern - und dafür nur eine Pille wäre zu schön. Zum anderen spielt sich die Aufrechterhaltung ja im Stammhirn ab. Sozusagen der zentralen Schaltstelle unseres Gehirns.
Und davor habe ich einen großen Respekt. In der Schaltzentrale unseres Gehirns “herum zu fummeln” ist ungefähr so, als würde ich bei einem Computer, der nicht funktioniert mit einem Schraubenzieher kräftig über den Hauptchip ratschen.
Man kann so etwas natürlich machen, aber funktionieren wird dann hinterher nichts mehr!
Es gibt Medikamente mit denen man das gesamte Stammhirn dämpfen kann. Die so genannten Beruhigungsmittel.
Manchmal sage ich zu meinen Patienten: Ich kann Ihnen eine Spritze geben und Ihr Tinnitus ist Ihnen innerhalb von ganz kurzer Zeit völlig egal. Diese Spritze wird Patienten vor einer Operation gegeben, die “Wurstigkeits-Spritze”. Das Problem dabei ist, dass Ihnen dann alles andere auch egal ist und Sie zu Fuß nicht mehr aus meiner Praxis heraus kommen. Außerdem machen Beruhigungsmittel von dieser Klasse ausgesprochen leicht abhängig.
Es ist leider nicht möglich, ganz gezielt im Stammhirn nur den Teil mit dem Tinnitus zu beruhigen. Entweder ganz oder gar nicht.
Auch die “Maschinen” oder technischen Hilfsmittel bei Tinnitus:
Dass das nicht funktioniert kann man sich ganz einfach selbst erklären - Entweder Sie setzen am Ohr an (z.B. die ganzen Softlaser Produkte) und selbst wenn sie da wirken würden (was sich in kontrollierten klinischen Studien nicht bestätigt hat), dann würden sie die Funktion des Innenohres verbessern, aber nicht auf die Tinnitusaufrechterhaltung im Gehirn wirken.
Oder andere Geräte versuchen angeblich das Stammhirn direkt zu beeinflussen, mit Wellen oder Spezial-Strahlen - das Problem ist hier die Eindringtiefe. Das Stammhirn liegt in der Mitte des Kopfes, Außen herum liegen in der Reihenfolge: Haare, Haut, Unterhautgewebe, Bindegewebe, Knochen, Hirnhäute, Großhirn und dann erst Stammhirn. Entweder dringen diese Wellen gar nicht bis zum Stammhirn vor, oder Sie haben ganz erheblichen Einfluss auf die darüber liegenden Gewebe. Und selbst wenn es möglich wäre bis ins Stammhirn zu kommen - wo genau ist denn der Teil, der ganz gezielt den Tinnitus verstärkt und können Sie sich vorstellen, wie winzig der ist?
Immer wieder kann man lesen, dass diese „Apparate“ wirken und in den Prospekten der Hersteller finden sich immer die Bilder von Betroffenen bei denen das Gerät gewirkt hat. Und das ist auch nicht gelogen (zumindest meistens nicht...).
Da sind wir bei der Placebowirkung. Wie Sie ja schon gesehen haben, hängt das Leiden beim Tinnitus entscheidend davon ab, wie er bewertet wird und welche Einstellung wir ihm gegenüber haben. Wenn ich jetzt ein Medikament oder ein Gerät anwende und davon überzeugt bin, dass es hilft, dann kann ich natürlich so meine Einstellung ändern. Wie es so schön heisst: Der Glaube versetzt Berge... Das bedeutet aber nicht, dass dies keine „Echte“ Wirkung ist.
Eine Wirkung ist eine Wirkung und diejenigen, bei denen diese Techniken helfen, beschreiben, dass es ihnen besser geht. Mein Problem bei der Sache ist, dass 30% einfach zu wenig sind und dass leider sehr oft finanzielle Interessen bei einigen der Herstellern im Vordergrund stehen.
Das sind jetzt natürlich schlechte Nachrichten, vor allem für diejenigen, die das Schneewittchen-Syndrom haben.
Aber es gibt einen ganz großen und entscheidenden Vorteil:
Wir brauchen überhaupt keine Pillen, Geräte oder ähnliches.
Auch wenn es ganz viele unterschiedliche Ursachen für die Entstehung des Tinnitus gibt; die Aufrechterhaltung läuft immer nach dem gleichen Prinzip ab: Falsche Bewertung im Stammhirn und überschießende Verstärkung. Und das können wir beeinflussen ohne irgendwelche besonderen Hilfsmittel. Was wir allerdings brauchen ist Zeit und etwas Durchhaltevermögen.
Also bitte, lassen Sie Schneewittchen da, wo sie hingehört - Im Reich der Märchen.
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